Zweimal täglich schwappen die Wassermassen der Ozeane dank der Schwerkraft des Mondes hin und her. Zwischen Ebbe und Flut wirken rund um den Globus gewaltige Kräfte. Und diese können zur Stromgewinnung genutzt werden. Doch wie ausgereift ist die Technik und welches Potenzial haben Gezeitenkraftwerke insgesamt?
Noch in diesem Jahr wird das neueste Großkraftwerk an der Westküste Südkoreas, das Sihwa-Lake-Projekt, seinen Betrieb aufnehmen. Zahlreiche weitere Pilotanlagen stellen sich weltweit den hohen Anforderungen, um Gezeitenströmungen im Meer effektiv nutzen zu können. Das Kraftwerk in Korea wird das bisher größte Gezeitenkraftwerk nahe der Stadt St. Malo an der Nordküste der Bretagne von seiner Spitzenposition verdrängen. Seit 1966 liefert "La Rance" mit 24 Rohrturbinen mit jeweils zehn Megawatt Leistung zuverlässig Strom. Durch die einzigartige Struktur der Rance-Mündung schwankt hier der Meeresspiegel zwischen Tief- und Hochwasser um bis zu 14 Meter. Produziert das koreanische Kraftwerk nur bei Flut elektrischen Strom, rotieren die französischen Turbinen sowohl bei auf- als auch bei ablaufendem Wasser. Möglich wird dies durch speziell geformte Kaplan-Turbinenräder, die unabhängig von der Fließrichtung in Bewegung gesetzt werden.
Luftaufnahme des französischen Gezeitenkraftwerkes in der Rance-Mündung bei St. Malo. Bild: dpa.60 Millionen Tonnen Meerwasser pro JahrInteressanterweise ist die gewaltige Anlage in der Bucht vor der südkoreanischen Stadt Ansan aus der Not geboren. Zunächst erstreckte sich hier ein Damm über eine Länge von fast 13 Kilometern, der den 57 Quadratkilometer großen Sihwa-See vom Gelben Meer abtrennt. Dieser Damm sollte ursprünglich neue Ackerflächen für die Landwirtschaft trockenlegen und die regionale Wasserversorgung verbessern. Doch der Plan schlug fehl. Wegen eingeleiteter Abwässer verschlechterte sich die Wasserqualität rapide. Nun baut die südkoreanische Regierung den Sihwa-Damm zum Gezeitenkraftwerk um. Mit jeder Flut werden gigantische Wassermengen durch zehn Rohrturbinen in den See hinein und bei Ebbe wieder heraus fließen. Dadurch soll nicht nur der umgekippte, künstliche See wiederbelebt sondern auch genug Strom für eine halbe Million Haushalte erzeugt werden.
Über eine ausfeilte Regelung der Zirkulation von bis zu 60 Millionen Tonnen Meerwasser pro Jahr soll das 254-Megawatt-Kraftwerk etwa 540 Gigawattstunden Strom erzeugen. Dazu muss das Sihwa-Becken bei Ebbe möglichst schnell durch Schleusentore geleert werden. Stauen sich darauf die Meeresfluten bei auflaufender Flut wieder vor dem Damm, kann das Wasser mit bis zu acht Metern Fallhöhe durch die Turbinen in den See stürzen und dabei effizient die Turbinen und Generatoren antreiben. Kontinuierlich lassen sich die Winkel der Turbinenschaufeln verstellen, um über einen möglichst langen Zeitraum eine hohe Stromausbeute zu erzielen. Dank des Sihwa-Kraftwerks wird Südkorea seinen Anteil an regenerativ erzeugtem Strom mit einem Schlag von 1,4 auf etwa 5 Prozent mehr als verdreifachen.
Höchster Tidenhub der WeltDer höchste natürliche Schwankung des Meeresspiegels zwischen Tief- und Hochwasser - und damit die beste Voraussetzung für ein Gezeitenkraftwerk - konnte mit bis zu 21 Metern in der Bay of Fundy an der kanadischen Atlantikküste gemessen werden. Dieser wird seit 1984 in Annapolis Royal von einem kleinen Kraftwerk genutzt, das allerdings nur mit einer einzigen 20-Megawatt-Turbine bestückt ist. Da Gezeitenkraftwerke bereits ab einem Tidenhub von mindestens fünf Metern effizient betrieben werden können, finden sich auch in China und Russland kleine Anlagen, deren Kapazitäten allerdings nur zwischen einem und vier Megawatt liegen. Insgesamt könnten an mindestens 100 Standorten rund um den Globus aus den Gezeiten jedes Jahr insgesamt mehr als eine Million Gigawattstunden Strom gewonnen werden.
Quelle: DLR | Jan Oliver Löfken